Management

Was ein Passagierflugzeug mit einem Becher Joghurt gemeinsam hat

claudia.furger@sqs.ch

Claudia Furger

Veröffentlicht am: 08.04.2025

Lesedauer

ca. 4 Minuten

Martin Fischer hat jahrelang Passagierflugzeuge und Militärjets geflogen, heute berät er Unternehmen in Sicherheitsfragen. Am 10. April 2025 spricht er am Lebensmitteltag über die Sicherheitskultur aus Sicht eines Piloten. Im Interview erzählt er, warum eine offene Fehlerkultur neue Chancen schafft, welche Rolle dabei die ISO 9001:2015 zu Qualitätsmanagement spielt, und wie ihm sein Bauchgefühl einst das Leben rettete. 

Interview: Claudia Furger

Herr Fischer, als ehemaliger Swissair- und Militärjet-Pilot haben Sie unzählige Flugstunden hinter sich – gibt es eine Sicherheitsregel aus dem Cockpit, die Sie auch im Alltag beherzigen? 

Ja klar. Eine meiner bevorzugten Regeln ist die sogenannte «Shared Situational Awareness». Also das ständige Bewusstsein für die aktuelle Situation. Als Pilot muss ich immer wissen, wo ich bin, wohin ich fliege und was meine Sicherheit beeinflussen könnte. Übersetzt auf den Alltag bedeutet das für mich, Risiken frühzeitig zu erkennen und entsprechend zu agieren – zum Beispiel in der Unternehmensführung oder bei der Qualitätskontrolle. Aber auch das «Aviate, Navigate, Communicate»-Prinzip wende ich oft an. Es bedeutet: erst stabil fliegen, dann die richtige Richtung wählen, zuletzt kommunizieren. Diese Priorisierung hilft mir nicht nur im Cockpit, sondern auch bei kritischen Entscheidungen – sei es geschäftlich oder privat.  

 

Am 10. April sind Sie Referent am Lebensmitteltag 2025. Was hat die Fliegerei mit der Produktion eines Joghurts gemein? 

Ziemlich viel. Sowohl die Luftfahrt als auch die Lebensmittelindustrie arbeiten mit strengen Sicherheitsstandards, da Fehler gravierende Folgen haben können – sei es ein Flugunfall oder ein gesundheitsschädliches Produkt. Beide Branchen setzen daher auf präzise Prozesse, klare Verantwortlichkeiten und mehrstufige Kontrollen, um Risiken frühzeitig zu erkennen und auszuschalten. Eine stabile Sicherheitskultur ist dabei von entscheidender Bedeutung. 

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Martin Fischer hat als ehemaliger Airbus- und Militärjetpilot jahrelang in sicherheitskritischen Umfeldern gearbeitet. Heute bringt er sein Wissen und seine Erfahrung als Wirtschaftsmediator, Unternehmensberater und Verhandlungsexperte in verschiedene Branchen ein. Er ist Inhaber der Firmen Consartis und ich-suche-rat.ch. 

Was ist eine stabile Sicherheitskultur? 

Sie ist mehr als das blosse Einhalten von Vorschriften. Sie stellt eine gelebte Haltung innerhalb der gesamten Organisation dar. Dazu gehört zum Beispiel, dass sich alle Mitarbeitenden der Risiken ihrer Tätigkeit bewusst sind und verantwortungsbewusst handeln. Sicherheit ist also keine Aufgabe einzelner Abteilungen, sondern eine gemeinsame Verpflichtung. Auch die Lernbereitschaft spielt eine zentrale Rolle. Unternehmen, die nicht nur Fehler analysieren, sondern auch ihre erfolgreichen Prozesse verstehen und weiterentwickeln, schaffen langfristig eine stabile Sicherheitskultur. Diese Kultur basiert auf Vertrauen und fördert ein Umfeld, in dem Bedenken offen geäussert werden können.   

 

Mit Fehlern offen umzugehen, spielt also eine wichtige Rolle? 

Auf jeden Fall. Eine echte Sicherheitskultur erfordert einen Wandel: weg vom «Blame Game» mit seinen Schuldzuweisungen, hin zum «Just-Culture»-Prinzip mit seiner offenen Fehlerkultur. In der Luftfahrt haben wir akzeptiert, dass Fehler unvermeidlich sind – unabhängig von Erfahrung oder Ausbildung. Statt nach Schuldigen zu suchen, schaffen wir deshalb ein Umfeld, in dem Fehler erkannt, verstanden und genutzt werden, um Systeme zu schaffen, die sie frühzeitig erkennen und korrigieren. Im Cockpit arbeiten wir deshalb nach dem Prinzip «Wir suchen nach dem Was und Warum, nicht nach dem Wer». Diese Herangehensweise fördert Transparenz und ermöglicht es uns, Systemschwächen zu identifizieren, anstatt Einzelpersonen zu beschuldigen. Wenn Mitarbeitende ohne Angst berichten, erhalten wir ein vollständigeres Bild der Risiken. 

 

Ziel ist also, dass Mitarbeitende möglichst viele Fehler melden?    

Genau. Je mehr Vorfälle – selbst kleinere Probleme – gemeldet werden, desto besser können grössere Zwischenfälle verhindert werden. Denn durch diese Meldungen entsteht eine bessere Datengrundlage für Sicherheitsanalysen. Dadurch erkennen Unternehmen Risiken früher, finden Lernfelder und können aktiv handeln.  

 

Welche Chancen bietet «Just Culture» sonst noch? 

Zum Beispiel eine erhöhte Mitarbeitenden-Zufriedenheit. Daten zeigen eine um 27 Prozent geringere Fluktuation bei psychologisch sicheren Teams. Bei einer offenen Fehlerkultur ist man zudem engagierter, weniger gestresst, kooperativer und eher bereit, neue Fähigkeiten auszuprobieren. Zudem passieren insgesamt weniger Fehler, weil Mitarbeitende nicht nur aus eigenen Erfahrungen lernen können, sondern auch aus den Fehlern anderer. Wichtig ist, dass man sie jederzeit melden kann - ohne negative Konsequenzen oder Repressionen befürchten zu müssen. Ich selbst habe als Militärpilot in einer extremen Situation erfahren, wie wichtig das ist. 

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Bild: zvg

Was ist passiert? 

Wir hatten den Auftrag, trotz schlechten Wetters mit zwei F5E-Kampfjets zum «Überschall-Luftkampftraining» über den Wolken zu starten. Ich war frisch ausgebildet und flog als «Sohn» – das zweite Flugzeug, das dem Leader folgt – mit einem sehr erfahrenen Kampfpiloten. Die Übung lief zunächst reibungslos, doch die kritische Phase begann auf dem Rückflug. Unsere Treibstoffreserven waren knapp, also mussten wir schnell zum Flugplatz zurückkehren. Mein Auftrag war klar: eng an meinen Vorgesetzten heranfliegen und im Patrouillenflug mit ihm gemeinsam in die dichte Wolkendecke eintauchen – ein anspruchsvolles Manöver, vor allem unter den gegebenen Bedingungen. Kaum waren wir in die Wolken eingetaucht, überkam mich ein ungutes Gefühl. Es kam mir vor, als würden wir zu früh absinken – doch ich hatte keine Möglichkeit, das zu überprüfen.

 

Was haben Sie getan? 

Trotz meiner Unerfahrenheit entschloss ich mich, mein ungutes Gefühl auszusprechen und den erfahrenen Vorgesetzten darauf aufmerksam zu machen. Ohne zu zögern, hob er die Flugzeugnase leicht an, um meine Bedenken zu überprüfen. Nur Augenblicke später durchbrachen wir die Wolken – und sahen direkt vor uns eine gewaltige Felswand. Wir beide zündeten sofort die Nachbrenner, zogen die Maschinen mit voller Kraft nach oben und entkamen nur um Haaresbreite einer Katastrophe. Diese Erfahrung zeigte mir eindrücklich, wie wichtig es ist, dass jeder – unabhängig von Erfahrung oder Hierarchie – seine Bedenken offen äussern darf und soll und dabei ernst genommen wird. Noch heute bin ich dankbar, dass ich den Mut hatte, meine Unsicherheit auszusprechen, und dass mein erfahrener Kollege sofort reagierte. Dieses Ereignis prägt bis heute meine Überzeugung und meinen Einsatz für eine offene und sichere Fehlerkultur – nicht nur in der Fliegerei. 

Was empfehlen Sie aufgrund solcher Erfahrungen den Unternehmen, um das «Just- Culture»-Prinzip in der Praxis umzusetzen? 

Alle Mitarbeitenden zu schulen und niederschwellige, anonyme Anlaufstellen zu schaffen, die eine offene Meldung von Sicherheitsbedenken ermöglichen. Ausserdem sollten Unternehmen in Teambesprechungen sowohl Fehler als auch Erfolge systematisch analysieren, sich über Hierarchieebenen hinweg austauschen und regelmässige Briefing- und Feedback-Runden abhalten. 

 

Welche Rolle spielen Führungskräfte bei der Förderung dieser offenen Fehlerkultur?  

Sie sind der Schlüssel zur Etablierung einer «Just Culture». Darum sollen Führungskräfte mit gutem Beispiel vorangehen, eigene Fehler eingestehen und Unsicherheiten offen ansprechen – so schaffen sie ein Umfeld des Vertrauens. Wichtig ist, dass sie dieses Vertrauen mit klaren Erwartungen verbinden, um eine Kultur zu fördern, in der Fehler als Lernchancen gesehen werden. 

 

Sie sprechen am Lebensmitteltag 2025. Was ist die grösste Herausforderung bei der Umsetzung dieses Prinzips in der Lebensmittelindustrie? 

Die Balance zwischen Effizienz und Sicherheit. Ähnlich wie in der Luftfahrt gibt es auch in der Lebensmittelindustrie einen ständigen Druck, schneller und kostengünstiger zu arbeiten. Daher halte ich es für entscheidend, klare «No-Go»-Kriterien zu definieren, bei denen Sicherheit stets Vorrang vor Geschwindigkeit hat. 

 

Was kann eine Umsetzung auch noch erschweren? 

Eine hohe personelle Fluktuation. Genauso wie die Angst vor Sanktionen. Wenn Mitarbeitende negative Konsequenzen befürchten, wenn sie auf Sicherheitsmängel hinweisen, werden Fehler unter Umständen vertuscht. Ohne ein sicheres Umfeld für Meldungen bleibt das Konzept der «Just Culture» deshalb wirkungslos. 

 

Die Luftfahrt ist hochreguliert, ebenso die Lebensmittelindustrie. Bedeutet mehr Regulierung automatisch mehr Sicherheit? 

Nicht unbedingt. Regulierungen schaffen eine wichtige Basis, aber zu viele Vorschriften können zu einer «Ich-erledige-nach-Vorschrift-Mentalität» führen, die Eigenverantwortung und kritisches Denken erstickt. Ich unterscheide deshalb zwischen «Compliance-Piloten», die Vorschriften strikt befolgen, und «Safety-Piloten», die deren Sinn verstehen und aktiv handeln. Unternehmen brauchen einen ähnlichen Ansatz: Regulierungen als Rahmen nutzen, aber eine Sicherheitskultur fördern, in der Mitarbeitende eigenständig Risiken erkennen und adressieren. 

 

Braucht es nebst den gesetzlichen Vorgaben zusätzliche Normen wie die ISO 9001:2015?  

Gesetzliche Vorgaben legen die Mindestanforderungen fest, während die ISO 9001:2015 als normative Grundlage für ein exzellentes Qualitätsmanagement dient. In der Luftfahrt gibt es ähnliche Standards, die weit über die gesetzlichen Anforderungen hinausgehen und uns dabei unterstützen, aktiv statt reaktiv zu handeln. 

 

Können Sie das ausführen? Worin liegen die Vorteile für eine Unternehmen, das zum Beispiel Tiefkühlpizza oder Laugenbrezel produziert? 

Erstens: ein systematisches Risikomanagement. Es hilft, Gefahren frühzeitig zu erkennen und zu verringern. Zweitens: eine prozessorientierte Denkweise. Sie optimiert die gesamte Produktionskette, um Qualität und Effizienz zu gewährleisten. Und drittens: ein Rahmen für kontinuierliche Verbesserung, bei dem regelmässige Audits und Analysen eine nachhaltige Sicherheitskultur schaffen. 

 

Gehen wir auf den letzten Punkt kurz ein. Wie unterstützt die ISO 9001:2015 eine kontinuierliche Verbesserung? 

Durch ihren PDCA-Zyklus, also Plan-Do-Check-Act, der unserem Cockpit-Prozess entspricht: Briefing, Execution, Debriefing, dann Erfahrungen melden und Prozesse optimieren. Dieser Kreislauf sorgt dafür, dass Unternehmen – wie in der Luftfahrt – systematisch aus Erfahrungen lernen und sich stetig verbessern. 

Piloten trainieren regelmässig Notfallsituationen. Wie wichtig sind solche Trainings in der Lebensmittelbranche? 

Extrem wichtig. Sie bereiten Mitarbeitende nicht nur auf seltene Krisensituationen vor, sondern stärken auch ihre Fähigkeit, unter Druck richtig zu reagieren.  

 

Was sind die entscheidenden Faktoren für ein effektives Notfalltraining? 

Erstens: Realitätsnähe – Szenarien werden unter echtem Zeitdruck und mit realistischen Kommunikationswegen simuliert. Zweitens: Variabilität – verschiedene Szenarien werden geübt, um auf unterschiedliche Notfälle vorbereitet zu sein. Und schliesslich: konstruktives Feedback, also ohne Schuldzuweisung analysieren, was verbessert werden kann. Eine der grössten Herausforderungen ist nicht das Fachwissen, sondern die Stressbewältigung und Entscheidungsfindung unter Druck. Studien zeigen zudem, dass 70 Prozent der Fehler an Schnittstellen zwischen Teams entstehen – daher sollten Trainings abteilungsübergreifend sein. Unternehmen, die in Teamtrainings investieren, steigern ihre betriebliche Resilienz. 

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