«Unser kollektives Know-how ständig und überall verfügbar machen»
Veröffentlicht am: 08.08.2023
Lesedauer
ca. 4 Minuten
Wie gelingt Ordnung unter schnell wechselnden Umständen? Wie werden Flexibilität und Qualität zugleich gewährleistet? Jürg Rötheli meint: Ein Qualitätsmanagementsystem ist hierfür nicht hinreichend, aber sicher notwendig. Als CEO der ORS Gruppe, die in Europa zahlreiche Asylzentren führt, spricht er aus eigener Erfahrung.
Qualitätsmanagementsysteme (QMS) reduzieren Komplexität, schaffen Ordnung und gewährleisten Qualität. Das ist hinlänglich bekannt. Doch geht dabei nicht die Fähigkeit verloren, flexibel auf unerwartete Situationen zu reagieren? «Im Gegenteil!», meint Jürg Rötheli im Interview mit der SQS. Er ist CEO der ORS Gruppe, die ihr QMS durch die SQS zertifizieren lässt.
Die ORS Gruppe führt in der Schweiz, Deutschland, Italien und Österreich Zentren für geflüchtete Menschen. Im Auftrag der jeweiligen Regierungen betreut sie diese Menschen von der Ankunft bis zu ihrer Integration oder Rückreise ins Herkunftsland. Das Unternehmen beschäftigt rund 2 400 Mitarbeitende aus über 80 Ländern. Es wurde 1992 als Organisation for Refugee Services gegründet und ist heute eine Tochtergesellschaft der internationalen Serco Group.
Jürg Rötheli, was ist der Wert von Normen und Zertifikaten in der Betreuung von Flüchtlingen und Asylsuchenden?
Der Asyl- und Migrationsbereich hat sich in den letzten Jahren stark entwickelt und professionalisiert – dies gilt auch für verwandte Branchen wie die Hotellerie oder die Pflege. Dank der Normen und Prozesse, die wir in unser Qualitätsmanagementsystem (QMS) integriert haben, können wir praktisch über Nacht Einrichtungen aufbauen, eröffnen und wieder schliessen. Auch die von uns betreuten Personen profitieren davon. Die Leistungen sind genau geregelt, unsere Werte sind so operationalisiert, dass unsere Mitarbeitenden auch situativ wissen, wie sie zum Beispiel mit schwierigen Situationen umgehen müssen. Das QMS hilft uns, die Komplexität unseres Auftrags in den Griff zu kriegen.
Woraus besteht diese Komplexität?
Wir erbringen vielfältige Dienstleistungen: medizinische und psychologische Betreuung, Logistik, Verwaltung von Unterkünften, Verpflegung, Konfliktschlichtung, Weiterbildung und Arbeitsmarktintegration, Beratung im Umgang mit den Behörden. Hinzu kommen laufende Änderungen und Aktualisierungen seitens der Auftraggeber. Die grösste Herausforderung ist es sicherlich, auf der einen Seite so viele Prozesse wie möglich zu standardisieren und andererseits den täglichen Unvorhersehbarkeiten in unseren Unterkünften gerecht zu werden.
Nach welchen Normen ist ORS zertifiziert?
Die ISO 9001 regelt unsere Management- und Dienstleistungsprozesse. Die ISO 21001 und eduQua leiten uns als Bildungsinstitution an. Die Zertifizierung IN-Qualis zeichnet uns als Institution aus, die im Bereich der Arbeitsintegration tätig ist. Aktuell prüfen wir weitere Zertifizierungen, zum Beispiel im Hygienebereich. Neben der ISO 9001 sind uns die Normen zur Aus- und Weiterbildung am wichtigsten. Nach ihnen entwickeln wir die Schulungen, mit denen wir unsere Mitarbeitenden fit für ihre anspruchsvolle Aufgabe machen. Ansonsten würden unsere Teams zu viel improvisieren und nicht einheitlich auftreten.
Warum?
Es gibt keine Lehre im Bereich der Asylbetreuung. Deshalb müssen wir Mitarbeitende aus verwandten Branchen rekrutieren und in vielen Bereichen selbst schulen. Viele von ihnen sind Sozialpädagogen, Hotelfachpersonen, haben einen Migrationshintergrund oder sind intrinsisch motivierte Quereinsteiger. Gutes tun zu wollen, reicht aber nicht, weil darin die Gefahr des Zu-nahe-Seins liegt. Der Betreuungsalltag ist sehr anspruchsvoll, voll von schweren menschlichen Schicksalen und zum Teil auch konfliktträchtig. Wir müssen unsere Mitarbeitenden also darin schulen, das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz zu kennen und sich entsprechend zu verhalten. Notwendig sind auch Kompetenzen in der interkulturellen Kommunikation, der Konfliktprävention sowie Fachwissen über das Asylverfahren und die Abläufe in der Schweiz.
Qualität bei grösster Flexibilität:
Warum die ORS mit der SQS zusammenarbeitet
Stärken die Zertifikate die Reputation?
Das ist ein willkommener Nebeneffekt. Als wir 2007 erstmals nach der ISO 9001 zertifiziert wurden, waren wir eine der ersten Anbieterinnen dieser Art im Migrationsbereich. Ich begrüsse es sehr, dass die Zertifizierungen immer öfters auch ein Kriterium für die öffentlichen Ausschreibungen sind, weil hohe Qualität letztendlich auch eine Wertschätzung den Geflüchteten gegenüber darstellt. Fakt ist: Wenn wir unsere Prozesse, die über die letzten Jahre immer komplexer geworden sind, nicht so verschriftlicht und dokumentiert hätten, könnte unsere Organisation in dieser Schnelligkeit und Flexibilität nicht weiter funktionieren.
Schränken Normen die Flexibilität nicht ein?
Im Gegenteil! Nach dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine Ende Februar 2022 stellten wir innerhalb von knapp sechs Monaten in der Schweiz, Deutschland, Österreich und Italien über 500 zusätzliche Mitarbeitende ein. Das entsprach einem Zuwachs der Belegschaft um einen Drittel! Der Bedarf vonseiten unserer öffentlichen Auftraggeber, neue Unterbringungs- und Betreuungskapazitäten zu schaffen, ist aktuell riesig. Wir müssen oft innerhalb sehr kurzer Zeit in verschiedenen Ländern und Sprachregionen Zentren aufbauen. Diese Schnelligkeit und Reaktionsfähigkeit sind nur gegeben, wenn wir unser kollektives Know-how ständig und überall verfügbar machen.
Welche Bedeutung haben die für die Zertifizierung notwendigen Audits?
Sie sind für uns sehr wichtig, weil wir uns ständig verbessern wollen. Im Dialog mit der Auditorin merken wir, wo wir gut unterwegs sind und die Normen im Alltag konsequent angewendet werden und wo es noch Schwachstellen gibt.
Können Sie die Bedenken nachvollziehen, dass eine effizienz- und gewinnorientierte Unternehmung wie ORS im humanitären Bereich tätig ist?
Wir erbringen im Auftrag der öffentlichen Hand professionelle Dienstleistungen, die der Staat nicht selbst erbringen kann oder will. Das ist eine politische Entscheidung. Um Ihre Frage zu beantworten: nein. Wenn man sich näher mit der Thematik auseinandersetzt, versteht man schnell, dass eben genau dies Sinn ergibt: ORS kann im Gegensatz zum Staat sehr schnell und flexibel tätig sein, zum Beispiel durch die zeitlich befristete Anstellung von Personal. Des Weiteren verfügen wir nach über 30 Jahren über einen Professionalisierungsgrad, an den man nicht ohne Weiteres herankommt. Im Gegensatz zu anderen Organisationen, die für ihre Tätigkeiten im selben Mass entschädigt werden, tragen wir selbst das unternehmerische Risiko, ohne Spenden, Subventionen oder staatliche Defizitgarantien zu erhalten.
Räderwerke der Normalität
Dieses Interview ist in voller Länge im Buch «Räderwerke der Normalität. Wie Normen und Standards Vertrauen schaffen» erschienen. Die SQS hat es anlässlich ihres 40-jährigen Bestehens im Verlag NZZ Libro veröffentlicht. Anhand von Grundlagenartikeln und Fallbeispielen zeigt das Buch auf, wie Normen und Standards es Unternehmen erlauben, hohe Erwartungen zuverlässig zu erfüllen – und so zu einer Normalität beitragen, die alles andere als normal ist. Das Buch ist auf Deutsch sowie – als E-Book – auf Englisch, Französisch und Italienisch erschienen.
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