Management, SQS-Wissen

Selbstorganisation: neue Formen, andere Normen

alex.gertschen@sqs.ch

Alex Gertschen

Veröffentlicht am: 23.11.2023

Lesedauer

ca. 4 Minuten

Die klassische Linienorganisation hat ausgedient. Immer mehr Unternehmen entdecken überlegene Ansätze zu Organisation und Governance. Einer der mächtigsten ist die Selbstorganisation. Oft missverstanden als Laissez-Faire und Fundamentalangriff auf organisatorische Ordnung, ist sie das genaue Gegenteil: eine Organisationsform, in der durch Normen echte Handlungsfreiheiten erst ermöglicht werden. 

Von Caspar Meili und Nicole Marxer

Selbstorganisation beschreibt die Idee, dass Mitarbeitende einen ihnen übertragenen Auftrag ohne anweisende Führung erfolgreich umsetzen können. Im Kleinen ist diese Idee in Form guter Delegation längst gelebte Praxis. Im Grossen ist sie revolutionär. Es ist paradox (zumindest vordergründig): Was im Kleinen von guten Führungskräften sehr geschätzt wird, weil es von operativem Ballast befreit, wird im Grossen gefürchtet. Denn es hat das Potenzial, Führungskräfte obsolet zu machen. 

Selbstorganisation basiert auf einem neuen Governance-Konzept. Selbstorganisierte Teams erhalten einen spezifischen Auftrag, wie beispielsweise die gemeinsame Verantwortung für Kundinnen und Kunden in einem Marktgebiet. Sie erhalten eine klare Zielsetzung, beispielsweise in einer Periode zu erzielenden Umsatz, Kundenzufriedenheit oder Deckungsbeitrag. Weiter erhalten sie Rahmenbedingungen, die das Spielfeld abstecken, in dem sie sich frei bewegen und entscheiden dürfen. Die Rahmenbedingungen können grundlegende Dinge wie die Leistung definierter Services, die Nutzung des ERP-Systems, maximale Teamgrösse oder die Erfassung geleisteter Stunden beschreiben. Sie können aber auch spezifische, im Leistungsversprechen am Markt enthaltene Dinge normieren wie Service-Levels in der Kundeninteraktion. 

Selbstorganisation basiert auf verschiedenen Elementen.
Bild: zvg

Selbstorganisation basiert auf verschiedenen Elementen.
Bild: zvg

Das «Wunder» der Selbstorganisation vollzieht sich dann so, dass ein kompetentes Team den Auftrag annimmt und die zu dessen Umsetzung nötigen Aufgaben selbst definiert, im Team aufteilt und so leistet, dass es unter Berücksichtigung der Rahmenbedingungen die gesetzten Ziele erreicht. Dabei ist dem Management oder der Führungskraft einerlei, wie der Prozess der Zielerreichung abläuft. Das Team kann (und soll) eigene Wege finden, die einem in den lokalen Arbeitskontext nicht eingebundenen Qualitäts-, Prozess- oder Linienmanager nicht eingefallen wären. Es kann (und soll) neue Ideen entwickeln, Fehler machen und lernen.

Weiter erforderlich sind verlässliche Leistungen und eine gute Zusammenarbeit an Schnittstellen zu anderen Teams (sowohl zu operativen Teams als auch Supportstellen) sowie ein achtsames Handeln von Personen, insbesondere zweier Funktionen. Dabei handelt es sich in der Regel um das Management, das für die Normen verantwortlich ist und bei Abweichungen eingreift und um Coaches, die im Bedarfsfall helfen und die Teams unterstützen. Auf den ersten Blick scheint damit nicht viel gewonnen. In unserer Beratungspraxis haben wir jedoch Lösungen erfolgreich implementiert, in denen eine Managerin für 500 Mitarbeitende verantwortlich wurde und Teamcoaches jeweils bis zu 100 Mitarbeitende begleiten – in selbstorganisierten Teams. Die Anzahl benötigter Führungskräfte hat sich somit erheblich reduziert. Wieso? Die Teams haben selbst Führungsaufgaben in Form von rotierenden Teamaufgaben und Rollen übernommen. Dieses «Wunder» ist aber nur möglich, wenn alle erwähnten Elemente – Auftrag, Zielsetzung und Rahmenbedingungen – definiert, verbindlich und respektiert sind.

Vor diesem Hintergrund zeigen sich die Verknüpfbarkeit, aber auch Widersprüche zwischen der Selbstorganisation und normierten Managementsystemen. Denn Vorgehensstandards, die in vielen Qualitätsmanagementsystemen den grössten Teil ausmachen, erhalten eine neue Rolle und einen neuen Stellenwert. Geschäftskritische Standards werden in der Selbstorganisation über die erwähnten Rahmenbedingungen verbindlich gemacht. Alle anderen erhalten Empfehlungscharakter. Sie verlieren ihren Allgemeingültigkeitsanspruch, beschreiben aber weiterhin eine gute Praxis, die in vielen Fällen empfehlenswert ist. Sie sollen selbstorganisierten Teams eine gute Unterstützung bieten, ersetzen aber lokales Denken, Entscheiden und Handeln nicht. Im Gegenteil: Sie nähren sich aus den lokalen Erfahrungen und werden idealerweise von und mit selbstorganisierten Teams weiterentwickelt.

Fünf Ideen für Schritte in Richtung Selbstorganisation

Selbstorganisation in einem Unternehmen einzuführen, ist eine grosse, strukturverändernde Aufgabe, die mehrere Jahre dauert und grossen Einfluss auf das Betriebsmodell hat. Es ist aber möglich, auch im Kleinen, Schritte in Richtung Selbstorganisation zu unternehmen. In unseren Beratungsprojekten haben sich fünf gut anwendbare Punkte bewährt:

  • Teamziele: Teamziele können eine neuartige, für Selbstorganisation typische Dynamik auslösen: Sie setzen Mitarbeitende in ein Boot und laden zu gemeinsamer Aktion und Kreativität ein. Effektive Teamziele haben immer auch eine individuelle Relevanz: Wenn wir als Team etwas erreichen, profitiere ich auch individuell. Und umgekehrt.
  • Teamrollen: In vielen Modellen mit selbstorganisierten Teams werden Führungsaufgaben gebündelt und in Form von Rollen temporär an einzelne oder mehrere Teammitglieder delegiert. Warum nicht die Verantwortung für die Planung, Durchführung und Dokumentation von Sitzungen als Aufgabe definieren, die im Team rotiert? Warum nicht eine Verantwortung für Kultur und Zusammenarbeit definieren und verteilen? Oder eine für das Onboarding von Mitarbeitenden oder für die Dienst- und Einsatzplanung?
  • Teamsitzungen: Teamsitzungen gibt es in allen Unternehmen. Aber nur wenige erlauben oder fördern den Dialog und den Einbezug aller Mitarbeitenden. Für Einweg-Kommunikation gibt es andere Gefässe wie Videos. Die synchrone Anwesenheit sollte dazu genutzt werden, alle zu Wort kommen zu lassen, individuelle Meinungen zu erschliessen und aufeinander zu beziehen. Warum nicht die Meinung jedes Team-Mitglieds im gleichen Masse abholen? Dies kann beispielsweise erreicht werden, indem jede/r individuell Post-its schreibt und diese dann im Plenum präsentiert, gesammelt und diskutiert werden.
  • Teamentscheidungen: Charakteristisch für Selbstorganisation sind gemeinsame Entscheidungen. Damit kann in jeder Organisation und in jeder Teamsitzung experimentiert werden. Warum nicht für Entscheidungen drei farbige Post-its vorbereiten und die Teammitglieder dazu einladen, gleichzeitig aufzuzeigen, ob sie die Entscheidung unterstützen (grün), damit leben können (orange) oder diese ablehnen und direkt einen Gegenvorschlag einbringen möchten (pink)?
  • Teamorientierte Führung: Führung findet oft in 1:1-Settings statt. Typisch dafür sind Bilas. Teamorientierte Führung zeigt sich darin, dass Führungskräfte primär im Team agieren und beispielsweise Arbeitsaufträge in der Teamöffentlichkeit verteilt und Ergebnisse auch wieder dort präsentiert werden. Dies erhöht Transparenz und betont, dass das Team nicht einfach eine durch eine Führungskraft vereinte Zweckgemeinschaft ist, sondern tatsächlich die für die Arbeit der Teammitglieder relevante Referenzgruppe.

Zum Autor und der Autorin

Caspar Meili und Nicole Marxer arbeiten in der Implement Consulting Group, einer internationalen Unternehmensberatung mit 1500 Beraterinnen und Beratern, Hauptsitz in Kopenhagen und Büros in Skandinavien, Deutschland und der Schweiz. Aus ihrem Office in Zürich heraus begleiten Nicole und Caspar Unternehmen bei anspruchsvollen Veränderungsinitiativen. Sie haben grosse Erfahrung darin, in enger Zusammenarbeit mit Kunden innovative Organisationsformen wie Selbstorganisation zu implementieren.

Caspar Meili und Nicole Marxer - Implement Consulting Group

Caspar Meili und Nicole Marxer
Bild: zvg

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