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Ohne Normen und Standards kein Zugang zu internationalen Märkten

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Alex Gertschen

Veröffentlicht am: 23.02.2023

Lesedauer

ca. 6 Minuten

Das «Eisenbahnland» Schweiz reicht weit über die nationalen Grenzen hinaus. Das gilt für die SBB, deren Verbindungen weit in die Nachbarländer hinausführen, wie für den global tätigen Zughersteller Stadler Rail. Die Beispiele der beiden SQS-Kunden zeigen: Normen und Standards sind für den Zugang zu internationalen Märkten essenziell.

Normen und Standards sind entscheidend für den Wohlstand in der Schweiz. Einerseits ermöglichen oder erleichtern sie die Präsenz hiesiger Unternehmen auf Märkten und in Wertschöpfungsketten rund um den Globus. Andererseits sind sie Instrumente, die zur Qualität, Funktionalität, Sicherheit und Verlässlichkeit von Gütern und Dienstleistungen «Swiss made» beitragen – und damit zu einer weltweiten, zahlungskräftigen Nachfrage.

Diese Zusammenhänge werden anhand von zwei Beispielen des «Eisenbahnlandes Schweiz» deutlich. Im In- und Ausland steht die Schweizerische Bundesbahn SBB für komfortables Reisen ohne «böse Überraschungen». Diese Normalität ist angesichts der Komplexität einer Bahnreise alles andere als normal. Eine imaginäre Reise von Interlaken Ost nach Hamburg-Altona illustriert, wie Komplexität durch die Normierung und Standardisierung von Technik und Prozessen handhabbar wird. Der Text ist ein Auszug aus einem Artikel, der im Buch «Räderwerke der Normalität» im Mai erscheinen wird.

Als zweites Beispiel dient Stadler Rail, ebenso wie die SBB ein Kunde der SQS. Der Zughersteller und Systemanbieter hat diesen Monat für seinen Standort St. Margrethen im St. Galler Rheintal das weltweit erst fünfte IRIS-Goldzertifikat erhalten. Im Kurzinterview mit der SQS äussert sich Stadler-CEO Markus Bernsteiner zur Bedeutung dieser Zertifizierung nach dem International Railway Industry Standard (IRIS) (Infokasten unten rechts).

Räderwerke der Normalität

Die SQS ist 1983 gegründet worden. Zu ihrem 40-jährigen Bestehen gibt sie im Verlag NZZ Libro das Buch «Räderwerke der Normalität. Wie Normen und Standards Vertrauen schaffen» heraus. Das Buch zeigt auf, wie Normen und Standards es Unternehmen sowie anderen Organisationen erlauben, hohe Erwartungen zuverlässig zu erfüllen – und so in der Schweiz zu einer Normalität beitragen, die alles andere als normal ist. Das Buch ist von Journalistinnen und Wissenschaftlern geschrieben worden und erscheint im Mai auf Deutsch sowie – als E-Book – auf Englisch, Französisch und Italienisch.

Von Interlaken nach Hamburg: Wie eine sichere und komfortable Zugfahrt zur Norm wird

SBB_Eurocity

Eine Eurocity-Zugkomposition fährt dem Thunersee entlang. (Foto: SBB)

Bahnhof Interlaken Ost: Spurführung und Radsätze

Gina Muster geht mit ihren beiden Kindern Tim und Emma den Perron-Aufgang beim Bahnhof Interlaken Ost hoch. Oben angekommen, bewegt sich die junge Familie zu jenem Sektor, wo gemäss Onlinefahrplan der SBB die weniger frequentierten Wagen halten. Der Zug ist bereits da, sie steigen ein und setzen sich in ein Abteil der 2. Klasse. Bald fährt die Komposition aus dem Bahnhof hinaus – bei der Fahrt über das Weichenfeld beginnt es etwas zu schaukeln. Tim fragt den Zugbegleiter, woher der Zug weiss, dass er in der Weiche zur Seite fahren muss.

Verantwortlich dafür ist die Spurführung der Wagen: Neben dem Schienenprofil und der Spurbreite ist das Radprofil entscheidend für eine sicher funktionierende Spurführung und die sogenannte «Laufruhe». Um wirtschaftlich und trotzdem sicher zu fahren, werden die Radsätze alle 200 000 bis 400 000 Kilometer reprofiliert. Das heisst, die durch Reibung und Laufflächendefekte abgefahrene Kontur des Rades wird an speziellen Drehbänken wiederhergestellt («abgedreht»). 

Wichtig ist in diesem Zusammenhang die «zerstörungsfreie Prüfung»: Bei ihr wird die Struktur von Fahrzeugbauteilen und Materialien geprüft, ohne diese zu beschädigen. Es kommen die gleichen Prüftechnologien zum Einsatz wie in der Luftfahrt, in der Atomindustrie oder in der Medizin (z.B. Ultraschall). Das Kompetenzzentrum «zerstörungsfreie Prüfung» der SBB nimmt die Funktion der Kompetenzstelle nach der Deutschen Industrienorm DIN 27201 Teil 7 des Personenverkehrs der SBB wahr. Es autorisiert und überwacht nach den Europäischen Normen EN ISO 9712 und EN 16910 Teil 1 das Prüfpersonal.

Bahnhof Thun: Abfahrerlaubnis per SMS

Auf dem Perron des Bahnhofs Thun bereitet sich die Kundenbegleiterin 30 Sekunden vor Abfahrt auf die Abfahrt des Zugs vor. Tim sieht, wie sie auf ihr mobiles Gerät schaut. Die Abfahrerlaubnis ist primär über Fahrdienstvorschriften und Ausführungsbestimmungen geregelt, also nicht über eine Norm, sondern einen standardisierten Prozess, in dem jeder Schritt bis zum Anrollen des Zuges sekundengenau festgelegt und vom SBB-Personal überall gleich anzuwenden ist. An den meisten Bahnhöfen wird die Abfahrerlaubnis mittels SMS in einem dafür programmierten Widget erteilt. […]

Kundenbegleiterin auf dem Perron

Eine Kundenbegleiterin signalisiert die «Bereitschaft» zur Abfahrt. (Foto: SBB)

An einem SBB-Wagen werden im Rahmen eines Tests Fenster nachgelasert, um den Mobilfunkempfang zu verbessern. (Foto: SBB)

Unterwegs im Zug: Bahnfunk und Kunden-Connectivity

Im Zug startet Tim auf seinem Tablet ein Onlinegame. Seine Mutter telefoniert währenddessen mit ihrer Bekannten in Hamburg und gibt ihr die voraussichtliche Ankunftszeit bekannt. Sie hat ihr Notebook mitgenommen, um danach noch ein paar Mails zu beantworten, die am Vormittag bei der Arbeit liegen geblieben sind. Reisende, insbesondere Pendlerinnen und Pendler, erwarten eine gute Mobilfunkverbindung unterwegs. Denn Reisezeit soll auch nutzbare Zeit sein – sei es zum Arbeiten oder zur Unterhaltung.

Für einen möglichst nahtlosen Übergang der Mobilfunkverbindung oder den Einsatz neuer Technologien ist erneut eine technische Standardisierung notwendig – gerade beim länderübergreifenden Verkehr. Ein gutes Beispiel ist die mobilfunkdurchlässige Zugscheibe. Beim Lasern wird ein winziger Teil der metallisch bedampften Schicht der Scheibe abgetragen, womit das Mobilfunksignal besser ins Wageninnere eindringen und so den Empfang verbessern kann. 

Gelaserte Zugscheiben werden in der Schweiz bereits von mehreren Bahnunternehmen eingesetzt. Als übergreifendes und normgebendes Gremium wirkt das «In-Train-Consortium», das hier das «System Spezifikation für gelaserte Scheiben in Schienenfahrzeugen» massgebend prägt. Ihm gehören die Provider Swisscom AG, Sunrise GmbH und Salt sowie Verkehrsunternehmen an. […]

Bahnhof Bern: Sicherheit und Fahrkomfort 

Der Zug fährt langsam in den Bahnhof Bern ein. Obwohl er zeitweise recht schnell durch die Landschaft gerollt ist, fühlt sich Emma sicher und behaglich – wie es eine Reihe von Normen vorsieht. Nachdem der Zug zum Stillstand gekommen ist, steht Emma auf, um sich im Wageninnern umzuschauen.  […]

Bahnhof Basel: grenzüberschreitender Verkehr

Nach einer weiteren Stunde fährt der Zug in Basel ein. Emma, Tim und ihre Mutter blicken zum Fenster hinaus und verfolgen den Sekundenzeiger an der Perron-Uhr. «Bald sind wir in Deutschland», sagt Gina zu den beiden. Tim blickt seine Mutter an und fragt: «Funktioniert die Bahn denn in Deutschland gleich wie in der Schweiz?»

Auch wenn die Eisenbahn in den Nachbarländern fast gleich wie in der Schweiz funktioniert, gibt es noch immer historische Unterschiede der Systeme, zum Beispiel bei den Stromabnehmern, deren Harmonisierung teurer ist als die Mehrsystemausstattung der Fahrzeuge. Der Fahrgast oder Frachtkunde spürt diese Unterschiede jedoch nicht, sondern kann im europäischen Eisenbahnraum von Lissabon bis Tallinn und von Stockholm bis nach Athen auf dem Netz der europäischen Bahnen unterwegs sein.

Bereits im Staatsvertrag von 1886 (siehe Infokasten unten) waren Regelungen für den grenzüberschreitenden Verkehr getroffen worden. Seitdem hat sich nicht nur die Technik weiterentwickelt, sondern auch das Regelwerk, um alle notwendigen Aspekte des Systems Eisenbahn für den Verkehr über nationale Grenzen zu regeln. […]

«Die Goldzertifizierung bestätigt unsere hohen Qualitätsansprüche»

Die SQS hat diesen Monat zusammen mit dem Verband der europäischen Eisenbahnindustrie (UNIFE) der Stadler Rheintal AG in St. Margrethen (SG) das IRIS-Goldzertifikat übergeben. Weltweit sind rund 2300 Unternehmen gemäss dem International Railway Industry Standard (IRIS) von UNIFE zertifiziert. Das Tochterunternehmen der Schweizer Stadler Group ist aber erst das weltweit fünfte und hierzulande das erste, das gemäss der höchsten Leistungsstufe «Gold» geprüft worden ist.

Zu den besonderen Anforderungen auf dieser Stufe gehört, dass vier Kunden der Stadler Rheintal AG auf ihre Zufriedenheit hin befragt wurden; dass die zu erreichenden Erfolgskennzahlen (KPI) im Branchenvergleich sehr hoch sind; oder dass das Auditorenteam der SQS durch die UNIFE begleitet wurde, also auch der Auditprozess höheren Ansprüchen genügen muss.

Markus Bernsteiner, der CEO der Stadler Group, beantwortete anlässlich der Zertifikatsübergabe gegenüber der SQS einige Fragen:

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Markus Bernsteiner, warum hat sich die Stadler Rheintal AG dazu entschieden, das IRIS-Goldzertifikat anzustreben?

Den Goldstatus anzustreben war naheliegend, da sich die Anforderungen der Norm mit dem Tagesgeschäft und dem Leistungsversprechen von Stadler an seine Kunden decken.

Welche besondere Bedeutung hat das Goldzertifikat – in Abgrenzung vom Bronze- und Silberzertifikat – für bestehende oder künftige Kundenbeziehungen der Stadler Rheintal AG?

Die IRIS-Zertifizierung ermöglicht Kunden einen Vergleich der Leistungen von Stadler mit Mitbewerbern am Markt. Die Goldzertifizierung bestätigt unsere hohen Qualitätsansprüche.

Wie nahm die SQS ihre Rolle im Zertifizierungsprozess wahr?

Die SQS ist für Stadler eine langjährige Partnerin für Zertifizierungen. Die dynamische Anpassung und die marktgerechte Erweiterung ihres Zertifizierungssortiments gibt Stadler die Möglichkeit, seine zahlreichen Zertifizierungen durch einen Partner zu zentralisieren und damit Synergien zu nutzen.

Ankunft in Hamburg-Altona: Signaletik

Das Malbuch ist bis zur letzten Zeichnung ausgemalt, der alte Rekord im Onlinegame mehrmals übertroffen und das Notebook von Gina zugeklappt. Nach elfeinhalb Stunden ist es geschafft: Die Familie Muster trifft in Hamburg-Altona ein. In der Bahnhofshalle denkt sich Tim: So viel anders als bei uns sehen die Wegweiser auch nicht aus. 

Einheitliche Bildsprachen – in der Fachsprache Signaletik genannt – sind für Reisende unterwegs im Zug und an Bahnhöfen die primäre Orientierungsbasis. Die Kundenlenkung mit Text oder Piktogrammen ist in Europa zwar nicht verbindlich geregelt, doch besteht ein übergeordnetes Regelwerk: das Merkblatt «UIC Code 413 – Massnahmen zum erleichterten Bahnreisen». […]

Ein weiteres relevantes Regelwerk in der Schweiz ist die «V580 – FIScommun», eine vom Branchenverband Alliance SwissPass herausgegebene Vorschrift über Standards der Kundeninformation im öffentlichen Verkehr. Sie enthält Richtlinien und Empfehlungen hinsichtlich des Inhalts und der Gestaltung für sämtliche Produkte der Kundeninformation (z.B. Monitore, Aushangfahrpläne und Onlinefahrpläne) entlang der Reisekette. Die Vorschrift hat zum Ziel, dass alle Nutzerinnen und Nutzer des öffentlichen Verkehrs über alle Unternehmen hinweg zuverlässig und gleichartig informiert werden. Das wäre Gina, Tim und Emma aufgefallen, hätten sie in Interlaken Ost statt des Zugs nach Hamburg das Schiff nach Brienz oder das Postauto zu den Beatushöhlen genommen – oder eben nicht, denn durch die Normen und Standards erscheint die Kundenführung zu «normal», als dass sie auffiele.

 

Der Buchartikel über die imaginäre Zugreise wurde von den SBB-Mitarbeitenden Beat Bolliger und Reinhard Otto geschrieben. 

«Pünktlich wie die Eisenbahn» – mehr als ein geflügeltes Wort

Die Eisenbahn ist ein Kind der Normierung und Standardisierung. Dass zum Beispiel die Normalspur von 1435 Millimeter uns so «normal» erscheint, hat mit einem Staatsvertrag zu tun, den die Schweiz und ihre Nachbarländer 1886 unterzeichneten. An der «Conférence internationale pour l’unité technique des chemins de fer (UT)», die von 1882 bis 1886 in Bern stattfand, einigten sich diese Staaten auf dieses und eine Reihe weiterer technischer Merkmale. Dazu zählt der «Berner Raum» – der Abstand zwischen den Wagen innerhalb der Puffer: Als Sicherheitsmerkmal muss er gross genug sein, um den Rangierer beim Kuppeln nicht zu gefährden. Die Eisenbahn wurde aber nicht nur normiert – sie normierte ihrerseits. Als sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf immer mehr Strecken den Betrieb aufnahm, wurde sie zum Standard für die Uhrzeit – «pünktlich wie die Eisenbahn» war mehr als ein geflügeltes Wort. Die Notwendigkeit allgemein verbindlicher Fahrpläne führte dazu, dass die Eisenbahn den Zeitstandard definierte und die Kirchturmuhren von Genf bis St. Margrethen erstmals minutengenau im Takt schlugen. (BB/RO)

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