Industrie 4.0 und Qualitätsmanagement: Verlässliche Daten sind der Schlüssel
Veröffentlicht am: 17.05.2021
Lesedauer
ca. 6 Minuten
Die Wirtschaft steht an der Schwelle zur vierten industriellen Revolution. Durch die fortschreitende Digitalisierung wachsen die reale und virtuelle Welt zusammen – mit Folgen für das Qualitätsmanagement. Dieses soll neu frühzeitig ermöglichen, die Zukunft datenbasiert zu beeinflussen.
Sind Industrie 4.0 und Digitalisierung mehr als Schlagworte? Die Anzeichen dafür verdichten sich. Aktuell erleben wir wohl den Beginn der vierten industriellen Revolution. Im Kern strebt diese die vollständig vernetzte Wertschöpfungskette an. Die zielgerichtete Analyse von Big Data und integrierte intelligente Maschinen sollen autonome Prozesse ermöglichen. Die industrielle Produktion der Zukunft wird dank dem Internet der Dinge smarter und effizienter.
«Die bisherigen Prozesse unbesehen zu digitalisieren, genügt dafür nicht», sagt Dr. Ing. Hermann Lücken, Professor für Qualitätsmanagement (QM) an der Hochschule Esslingen. «Wir müssen Altbekanntes hinterfragen, neu denken und verändern.» Lücken verfügt als früherer Bereichsleiter Qualitätssicherung in der deutschen Stahlindustrie über einschlägige Praxiserfahrung, die er sich in seiner Forschungsarbeit zunutze macht. An der letzten Auditorentagung hat er als Referent und Workshop-Leiter die virtuell versammelten SQS-Audit-Fachleute auf eine drängende Frage vorbereitet: Wie wird sich Industrie 4.0 auf das heutige QM auswirken?
Die bisherigen Prozesse unbesehen zu digitalisieren, genügt nicht.
Dr. Ing. Hermann Lücken, Professor für Qualitätsmanagement, Hochschule Esslingen
Historie der industriellen Revolutionen
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Industrie 1.0: Mechanische Produktionsanlagen,
Nutzung von Dampf- und Wasserkraft -
Industrie 2.0:
Massen- und Serienproduktion,
Nutzung von elektrischer Energie -
Industrie 3.0: Computereinsatz und Automatisierung der Produktion
-
Industrie 4.0:
Produktion mit cyber-physischen Systemen (Digitalisierung und Vernetzung)
Auf dem Weg zum QM der Zukunft
Ein Blick zurück zeigt, dass sich das Qualitätsmanagement Schritt um Schritt weiterentwickelt hat. Seine Geschichte beginnt anfangs des 20. Jahrhunderts bekanntlich als Qualitätssicherung. Industriepioniere wie der US-Amerikaner Henry Ford beurteilen jeweils erst im Nachhinein datenbasiert, ob ein Produkt die geforderten Eigenschaften aufweist. Das japanisch geprägte prädiktive Qualitätsmanagement der 1960er-Jahre nutzt Daten erstmals zur Vorhersage von «gut» oder «schlecht». In den 1990er-Jahren folgen als bisher letzter Entwicklungsschritt umfassende Qualitätsmanagementsysteme.
Wenn die Digitalisierung in den nächsten Jahren weiter voranschreite, werde das QM ein neues analytisches Level erreichen, ist Lücken überzeugt. «Im Qualitätsmanagement fragen wir uns dann nicht mehr, was passieren wird. Wir wollen wissen, wie wir die Zukunft beeinflussen können», so Lücken. Bei der sogenannten präskriptiven Analytik gehe es darum, Datenstrukturen frühzeitig zu erkennen und diese gezielt zur Beeinflussung des Prozessergebnisses zu nutzen.
Von einfachen und komplexen Prozessen
Voraussetzung für das Qualitätsmanagement der Zukunft ist die zielführende Analyse von Echtzeit-Daten. Und hier liegt einer der Knackpunkte, wie Lücken mit einer plakativen Analogie gekonnt veranschaulicht:
- Ist eine von Natur aus langsame Schildkröte auf einer schnurgeraden breiten Strasse unterwegs, sind die Toleranzen im gemächlichen Prozess gross. Präskriptive Analytik liefert gute Resultate.
- Wagt sich hingegen ein sportlich-flinker Ferrari auf eine Passstrasse mit Haarnadelkurven, sieht dies entschieden anders aus. Angesichts des hohen Tempos und der geringen Fehlermarge ist der präskriptive Ansatz zum Scheitern verurteilt.
«Hohe Prozessgeschwindigkeiten in Kombination mit hoher Prozesskomplexität machen es nahezu unmöglich, präskriptives Qualitätsmanagement in Echtzeit zu erreichen», bringt es Lücken auf den Punkt. Bei komplexen Prozessen seien analytische Aussagen auch in Zukunft nur nahe an der Echtzeit möglich. «Deshalb wird der Qualitätsverantwortliche seinen Job im Unternehmen nie verlieren», ist Lücken überzeugt. «Es braucht weiterhin einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess.»
QM 4.0: Chancen und neue Erfolgsfaktoren
Doch wie wird das Qualitätsmanagement von Industrie 4.0 profitieren und wo liegen die Herausforderungen? Lücken rechnet mit einer markanten Qualitätsverbesserung durch die verfügbaren Echtzeitdaten. Für die Reduzierung von Risiken, Energieverbrauch, Ressourcen und Bearbeitungszeit brauche es aber noch immer eine analytische Reaktionszeit. Zusätzliches Optimierungspotenzial aufgrund der Digitalisierung ortet er in den Bereichen Dokumentation, Reklamationsmanagement und After Sales.
Um diese Chancen nutzen zu können, ist das gekonnte Handling grosser Datenmengen notwendig. Denn das konzeptlose Anhäufen von Big Data führt nicht automatisch zu besseren unternehmerischen Prozessen. Entscheidend sei es, im eigenen Unternehmen über die relevanten Daten zu verfügen, sagt Lücken. «Die hohe Verlässlichkeit und Qualität der Daten ist unverzichtbar.» Unter diesen anspruchsvollen Rahmenbedingungen werde einem zertifizierten Informationssicherheits-Managementsystem (ISMS) nach ISO 27001 eine immer grössere Bedeutung zukommen.
Stets abzuwägen gilt es gemäss Lücken aber auch zwischen dem Nutzen von Datenaufnahme und -analyse sowie dem Schutz vertraulicher Prozess- und Firmendaten. Für alle Unternehmen, welche die Anforderungen aus den revidierten Datenschutzgesetzen der EU und der Schweiz nachweislich umsetzen wollen, empfiehlt sich deshalb zweifellos der Aufbau eines zertifizierten Datenschutzmanagementsystems (DSMS).
Checkliste: Das Potenzial von Industrie 4.0
Wo steht Ihr eigenes Unternehmen bezüglich der Methoden von Industrie 4.0? Eine erste Einschätzung erhalten Sie mit dem Selbst-Assessment von Professor Lücken.
Wird QM wieder zur Qualitätssicherung?
Die wohl unaufhaltsame Digitalisierung wird aber auch die industrielle Produktion in ihren Grundfesten erschüttern. Diese dürfte zunehmend bedarfs- und nachfragegetrieben funktionieren. Die Folgen: Der Individualisierungsgrad der Produkte steigt, die Bandbreite an Modellen und Produktausführungen nimmt stetig zu. Der Auslöser dieses Trends ist Industrie 4.0. Denn neue digitale Fabriken produzieren bei Bedarf Einzelstücke beinahe wie Serienprodukte, zumindest was die Kosten und Lieferzeiten angeht.
Wahre Serienprozesse werden jedoch zur Seltenheit, industrielle Manufakturen zur Zukunft. Die geänderten Anforderungen an die Prozessfähigkeit und -stabilität werden nicht ohne Folgen für das QM bleiben. Die klassische Stichprobenprüfung müsse wieder flächendeckenden Kontrollen weichen, wagt Lücken einen kritischen Ausblick. «Aus Qualitätsmanagement könnte dann wieder Qualitätssicherung werden», denn nur letztere lasse sich auch bei komplexen Produkten automatisieren.
Wertschöpfende Dienstleistungen
Im Gegensatz zum industriellen Produkt wird eine Dienstleistung immer «an der Schnittstelle mit dem Kunden umgesetzt», wie es in der ISO 9001:2015 heisst. Ob die Dienstleistung den Kundenanforderungen entspricht, zeigt sich also erst, wenn sie erbracht ist. «Der Dienstleistungs-Kunde kauft die Katze im Sack», sagt Lücken.
Im Umkehrschluss ist es für den Anbieter von Dienstleistungen entscheidend, die individuellen Kundenanforderungen frühzeitig zu kennen. Nur so kann er die Kundenwünsche passgenau erfüllen und den geforderten Kundennutzen bieten. Diese vorgängig abzufragen, ist dank den Technologien von Industrie 4.0 viel einfacher geworden. Facebook, Instagram und Co. ermöglichen das bequeme Benchmarking per Mausklick. Onlinebasierte Dienstleistungen wie zum Beispiel Carsharing boomen.
Lücken beobachtet zudem das Aufkommen hybrider Geschäftsmodelle, also der Vermarktung von Dienstleistung und Produkt in Kombination. Intelligente Prozesssensoren ermöglichen es etwa Rolltreppenherstellern, den Käufern ihrer Anlagen lukrative Wartungspakete anzubieten. Ein spannender Aspekt, findet Lücken: «Dienstleistungstätigkeiten rücken so auch in der Industrie immer stärker in den Kern der Wertschöpfung.» Die vierte industrielle Revolution hat also ganz verschiedene Gesichter.
Dienstleistungstätigkeiten rücken auch in der Industrie immer stärker in den Kern der Wertschöpfung.
Dr. Ing. Hermann Lücken, Professor für Qualitätsmanagement, Hochschule Esslingen
Zur Person
Dr. Ing. Hermann Lücken ist Professor an der Fakultät Mobilität und Technik der Hochschule Esslingen bei Stuttgart. Nach einem Studium der Metallurgie und Werkstofftechnik war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Eisenforschung in Düsseldorf. Danach wechselte Lücken zur ThyssenKrupp Stahl AG, wo er unter anderem als Qualitätsingenieur und Bereichsleiter Qualitätssicherung tätig war. 2012 wurde er Professor an der Fakultät Fahrzeugtechnik der Hochschule Esslingen. Qualitätsmanagement (QM) ist dort heute nebst Werkstofftechnologie und -prüfung einer seiner Lehr- und Forschungsschwerpunkte.
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