«Die ISO 9001 bringt eine gewisse Ruhe ins System»
Veröffentlicht am: 19.10.2023
Lesedauer
ca. 7 Minuten
Die Jungfraubahnen bieten im Hochgebirge ein reibungsloses, sicheres und komfortables Kundenerlebnis an. Eine Voraussetzung dafür sind unzählige Vorschriften und Regeln, die für den Gast zumeist unscheinbar im Hintergrund wirken. Das Qualitätsmanagementsystem sorgt wiederum dafür, dass das Unternehmen diese komplexen Anforderungen im Griff hat.
Die Jungfraubahnen transportieren jährlich Hunderttausende Gäste aufs Jungfraujoch.
Foto: jungfrau.ch
Von Mischa Stünzi
3454 Meter über Meer, sagt die Höhenangabe auf dem Werbeschild. Die Luft ist dünn, das Wetter garstig. Durch den dichten Nebel pfeift ein eisiger Wind. Kein Umfeld eigentlich, in dem sich Menschen wohl fühlen. Und doch besuchen jährlich Hunderttausende das Jungfraujoch. Dass sie dies im Rahmen eines sicheren und komfortablen Tagesausflugs mit den Jungfraubahnen tun, liegt nicht zuletzt an zahlreichen Vorschriften, Normen und anderen Regeln, die für den Gast unsichtbar im Hintergrund wirken. Eine Spurensuche.
Wie praktisch Regeln sind, wird bereits am Bahnhof Interlaken Ost offensichtlich: Sieben Minuten gewährt der Fahrplan den umsteigenden Reisenden. Genug Zeit, um stressfrei das richtige Perron zu finden. Und trotzdem keine zu langen Wartezeiten. Der Fahrplan ist jedoch nur eine Vorgabe, die den Alltag von Lokführer Christian Seiler bestimmt. Gleichzeitig schreiben die Reglemente des Bundesamts für Verkehr aufgrund von Faktoren wie der Trassesteigung und den Kurvenradien eine Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h vor. Das kann schon mal zu einem Interessenskonflikt führen. Was, wenn der Zug Verspätung hat und Seiler 80 km/h fahren müsste, um den Fahrplan einzuhalten? Für Seiler ist der Fall klar: «Lieber Verspätung als Risiko. Als junger Lokführer lässt du dich manchmal vom Druck stressen, den der Fahrplan auf dich ausübt. Das darf nicht sein.»
Wenn Gäste wegen einer Verspätung den Anschlusszug verpassen, ist laut Reto Oswald, bei den Jungfraubahnen Leiter Qualität, Sicherheit und Risikomanagement, eine klare Kommunikation entscheidend. Zudem helfen Schokolade oder Kaffeegutscheine. «So können wir die Reisenden positiv überraschen, sodass sie manchmal trotz Verspätung sogar mit einem noch besseren Gefühl weiterreisen, als wenn sie pünktlich angekommen wären.»
Das interne Verständnis für Normen fördern
Das Besänftigen der Reisenden mit Schokolade und Gratiskaffee ist ein klitzekleiner Bestandteil des Qualitätsmanagements nach der ISO 9001:2015-Norm. Dieses umfasst alle Massnahmen zur Planung, Steuerung und Optimierung von Prozessen anhand vorgegebener Standards mit dem Ziel, die Qualität der Dienstleistung und damit das Kundenerlebnis zu verbessern. «Am Ende können wir im Qualitätsmanagement aber so viele Normen und Verhaltensregeln aufstellen, wie wir wollen. Umsetzen müssen es letztlich die Angestellten an der Front», erklärt Oswald.
Er ist sich durchaus bewusst, dass nicht jede Vorschrift, jede Norm bei allen gleich gut ankommt. Hier brauche es Aufklärung und Schulungen, um das Verständnis zu fördern. «Wenn sich jemand über eine Norm enerviert, ist es meine Aufgabe zu erklären, was ihre Vorteile sind und welche Risiken wir eingehen würden, wenn wir die Norm verletzten.»
Für die börsenkotierten Jungfraubahnen geht es bei jeder neuen Norm auch immer um Wirtschaftlichkeit. Im Idealfall verbessert eine neue Regel beides: Qualität und Wirtschaftlichkeit. Am neu eröffneten Terminal in Grindelwald etwa, wo die Gäste von der Berner-Oberland-Bahn auf die Eiger-Express-Gondelbahn umsteigen, strebt das Unternehmen optimale Schalterwartezeiten an. Dabei geht es auch, aber nicht nur um das Gästewohl: «Untersuchungen haben gezeigt, dass die Angestellten am Schalter sich besonders beeilen, wenn die Schlangen lang sind. Wenn die Wartezeiten kurz sind, nehmen sich die Angestellten eher Zeit für eine Beratung und verkaufen so mehr», führt Oswald aus.
Klare Prozesse erleichtern Neuerungen
Seit der Eröffnung der neuen V-Bahn im Jahr 2020 haben auch die Zugbegleiter eine neue Aufgabe. Sie begleiten neu nicht mehr den Zug, sondern die Reisenden und steigen mit ihnen im Terminal in die Gondel und später auf die Zahnradbahn aufs Jungfraujoch um. Eine Vorgabe des Chefs, Urs Kessler. «Er hat immer wieder Ideen, die uns aufs Neue herausfordern, wenn die Abläufe mal eingespielt sind. Da bin ich dankbar, dass wir im Hintergrund ein standardisiertes Qualitätsmanagement und vordefinierte Prozesse haben, über die wir die Ideen umsetzen können», sagt Oswald und lacht. «Letztlich helfen diese normierten Abläufe, Prozesse schlank zu halten und Synergien zu nutzen.» Die neue Aufgabe werde von den Angestellten übrigens sehr geschätzt, weil sie den Job abwechslungsreicher und spannender mache, so Oswald.
Räderwerke der Normalität
Dieser Text ist die gekürzte Fassung eines Artikels, der im Buch «Räderwerke der Normalität. Wie Normen und Standards Vertrauen schaffen» erschienen ist. Die SQS hat das Buch anlässlich ihres 40-jährigen Bestehens im Verlag NZZ Libro veröffentlicht. Anhand von Grundlagenartikeln und Fallbeispielen zeigt es auf, wie Normen und Standards es Unternehmen erlauben, hohe Erwartungen zuverlässig zu erfüllen – und so zu einer Normalität beitragen, die alles andere als normal ist. Das Buch ist auf Deutsch sowie – als E-Book – auf Englisch, Französisch und Italienisch erschienen.
Mit gemütlichen 28 km/h ruckelt die Bahn Richtung Jungfraujoch. Dort erwartet uns Stationswart Stefan Gehrig. Er sagt, letzte Nacht hätten wieder einmal Bergsteiger in den Räumlichkeiten auf dem Jungfraujoch übernachtet. «Das ist ein neues Phänomen, das sich aber wegen Social Media rasant verbreitet. Neulich habe ich abends zwei Gestalten auf der Sphinx gesehen. Es waren zwei spanische Bergsteiger, die es sich schon in der WC-Anlage gemütlich gemacht und ihre nassen Sachen zum Trocknen ausgebreitet hatten.»
Die Übernachtung hier ist illegal, dafür kostenlos. Was für die Bergsteiger praktisch ist, ist für das Unternehmen eine grosse Herausforderung. Denn einerseits soll niemand hier oben übernachten, schon aus Sicherheitsgründen nicht. Andererseits dürfen die Räumlichkeiten nicht abgeschlossen werden, weil sie im Notfall zugänglich sein müssen. Eine Lösung für den Zwiespalt finden Gehrig und Oswald heute nicht.
Asiatische Gäste achten besonders auf die Sicherheit
Für Oswald ist es aber eines von zig Beispielen von Normen, die für das Publikum unsichtbar bleiben, für das Unternehmen aber einen gewaltigen Aufwand bedeuten. «Und alles, damit die Gäste den Ausflug sorglos geniessen können.» Nichts soll diese Sorglosigkeit stören. Deshalb sollen auch die ganzen Sicherheitsvorkehrungen im Hintergrund bleiben. Die Schweiz habe in der Vergangenheit viel in ihren Ruf als sicheres Reiseland investiert, erklärt Oswald und nennt ein Beispiel: «Wenn die staatlichen Kontrolleure unsere Seilbahnmasten prüfen, kontrollieren sie zu zweit jede Schraube einzeln und führen Protokoll darüber.»
Als Schweizer habe man sich daran gewöhnt, dass hier alles normiert, geregelt und sicher sei. Von asiatischen Reisebüros hingegen werde er praktisch wöchentlich kontaktiert mit Fragen zur Sicherheit auf dem Jungfraujoch. Dabei gehe es vor allem um Brandschutz, Notstromversorgung und Trinkwasser für den Notfall. Da helfe es, wenn er auf die ISO-Zertifizierung verweisen könne. Denn das Zertifikat symbolisiere die Qualitätsansprüche und die Seriosität des Unternehmens.
Ansonsten hängt das Unternehmen seine Zertifikate und Normen aber nicht an die grosse Glocke. «Letztlich stellt sich die Frage: Was ist wichtiger, das Label oder das effektive Gästeerlebnis?», sagt Oswald. Man habe durchaus schon darüber diskutiert, ob man ein Gütesiegel wie die ISO-Zertifizierung in der Kommunikation nach aussen verwenden solle. Am Ende sei man aber zum Schluss gekommen, dass das den Aufwand nicht wert wäre.
Das Qualitätsmanagementsystem koordiniert die Anforderungen
Bräuchte es denn so etwas wie die Sterne für die Hotels auch für andere touristische Anbieter? Oswald überlegt. «Labels wecken auch Erwartungen. Um sie zu erfüllen oder zu übertreffen, müsste das ganze Erlebnis vom Bahnhof Interlaken West bis ins Restaurant auf dem Jungfraujoch 5-Sterne-Niveau haben. Und das zu garantieren, wäre enorm schwierig.» Zumal die Erwartungen auch je nach Herkunft der Gäste unterschiedlich sind. Oswald erklärt das anhand des ausgeschilderten Rundgangs durch die verschiedenen Erlebniswelten auf dem Jungfraujoch. Bei Asiaten komme dieser normierte Rundgang sehr gut an. Sie schätzten diese klare Gästeführung. Schweizer dagegen fühlten sich teils etwas bevormundet. Sie seien es eher gewohnt, sich individuell zu bewegen. «Im Moment tüfteln wir an einer noch klareren Gästeführung.»
Zurück in der Bergstation auf dem Jungfraujoch, dem höchstgelegenen Bahnhof Europas, schaut sich Oswald um und sagt: «Wenn Sie verstehen wollen, wie stark unser Betriebsalltag von Normen geprägt ist, müssen Sie sich nur umschauen: die Zahnstange: normiert. Die Gleise: normiert. Die Perronhöhe, das Blindenleitsystem, die Warenpaletten: alles normiert. Allein der Warenroboter, den wir unlängst eingebaut haben und der nun autonom den Zug ent- und belädt, wurde einen ganzen Tag lang von Experten abgenommen, damit er jeder gesetzlichen Sicherheitsnorm entspricht.»
Warum bürdet sich der Betrieb bei so vielen zwingenden Normen und Gesetzen mit der ISO-Zertifizierung denn noch freiwillig weitere Normenvorgaben auf? «Die ISO 9001 stabilisiert das Ganze und bringt eine gewisse Ruhe ins System. Ich glaube nicht, dass wir die reibungslosen Abläufe im Betrieb lange aufrechterhalten könnten ohne ISO-Vorgaben.» In einem so vielseitigen Unternehmen sei ein zentrales, alle Bereiche umfassendes Qualitätsmanagementsystem essenziell – allein deshalb, um den Überblick zu behalten. Es dient quasi als Drehscheibe, die die verschiedenen Vorgaben und Ansprüche koordiniert.
Auf dem Rückweg in der Talstation in Grindelwald. Hier finden die Gäste neben zahlreichen anderen Läden einen Souvenirshop der Jungfraubahnen vor und wir stossen auf ein Beispiel dafür, dass Normen manchmal gebrochen werden müssen, um den Reisenden das bestmögliche Erlebnis zu bieten. «Gestern», erzählt uns die Shopleiterin, «hatte es am Abend noch so viele Leute auf dem Jungfraujoch, dass nicht alle in den letzten Zug gepasst haben. Der Zug musste deshalb noch einmal hoch und die restlichen Gäste abholen. Für mich hat das bedeutet, dass der Laden eine halbe Stunde länger geöffnet war.» Und das, obschon die Ladenöffnungszeiten eigentlich klar geregelt sind.
von Alex Gertschen
Neu auch nach der ISO 14001 zertifiziert
Die Jungfraubahnen lassen sich in diesen Wochen auch nach der ISO-Norm 14001 zu Umweltmanagement zertifizieren. Reto Oswald, Leiter Qualität, Sicherheit und Risikomanagement, erläutert im Interview die Gründe und den erhofften Nutzen.
Reto Oswald, die Jungfraubahnen haben bereits ein nach der ISO 9001 zertifiziertes Qualitätsmanagementsystem. Weshalb lassen sie sich von der SQS nun auch nach der ISO 14001 zertifizieren?
Wir haben 2020 eine CSR-Strategie verabschiedet [Corporate Social Responsibility = gesellschaftliche Unternehmensverantwortung, Anm. d. Red.]. Daraus haben wir eine Nachhaltigkeits- und eine Energiestrategie abgeleitet. Die Umsetzung der ISO 14001 ist eng mit der Nachhaltigkeitsstrategie verknüpft, mit der wir die Weichen für zukünftiges, nachhaltig profitables Handeln und Wachstum der Unternehmung stellen.
Was bedeutet das?
Die Jungfraubahn-Gruppe ist eine der grössten Arbeitgeberinnen der Region und zugleich der wirtschaftliche Motor, womit der Gruppe eine besondere Verantwortung gegenüber Wirtschaft, Umwelt und Gesellschaft zukommt. Deshalb wurden für die drei Dimensionen «Umwelt», «Mensch» und «Governance» strategische Zielsetzungen definiert. Nebst der Erreichung dieser Ziele steht die Sensibilisierung der Mitarbeitenden in Bezug auf einen ressourcenschonenden Umgang mit Umwelt und Mensch im Fokus. Hier kommt die ISO 14001 ins Spiel.
Stand sie in Konkurrenz zu anderen Normen oder Standards im Bereich Umwelt oder allgemein Nachhaltigkeit?
Nicht in einer direkten Konkurrenz. Wir orientieren uns aber durchaus auch an deren Regelwerken. Zum Beispiel an ausgewählten Sustainable Development Goals [die UN-Ziele nachhaltiger Entwicklung, Anm. d. Red.]. Zudem stützt sich die Gruppe auf den Standard der Global Reporting Initiative zur öffentlichen Nachhaltigkeitsberichterstattung sowie auf das ESG-Konzept zur Berücksichtigung von Kriterien aus den Bereichen Umwelt (Environmental), Mensch (Social) und verantwortungsvoller Unternehmungsführung (Governance).
Warum haben Sie sich für die ISO 14001 entschieden?
Sie lässt sich mit der ISO 9001 «verschmelzen» und also einfach in unser Managementsystem integrieren. Unser Umweltmanagementsystem regelt nun – gegen innen – die Information der Mitarbeitenden über Neuigkeiten zum Thema Umwelt und Nachhaltigkeit oder den Austausch und die Schulungen mit der Geschäfts- und Fachbereichsleitung. Zudem dient es – gegen aussen – als Grundlage für die jährliche Publikation des Geschäfts- und Umweltberichts. Über unsere Webseite bieten wir ausserdem sämtlichen Anspruchsgruppen vertiefte Informationen zum Thema Umwelt und Nachhaltigkeit.
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